Zum Rezept stets ein gemaltes Blümchen dazu
Abschied nach 33 Jahren: Lühnder Landarzt Dr. H.-Ekkehard Wittneben hat Nachfolgerin gefunden / Sprechstunde wieder ab 1. Oktober
Den weißen Kittel hat er nie gebraucht. Auch ohne das typische Mediziner-Merkmal ist Landarzt Dr. Horst-Ekkehard Wittneben die Vertrauensperson schlechthin in Lühnde gewesen: als Hausarzt, als Psychologe und als Zuhörer. Und wohl auch als Beichtvater. „Manchen Patienten ist schon mal ein Herr Pfarrer im Sprechzimmer rausgerutscht“, erinnert sich der Landarzt schmunzelnd. Er hat das eher als Kompliment aufgefasst. Der inzwischen 67-Jährige hat mehr als drei Jahre eine Nachfolge für seine Lühnder Praxis gesucht. Als er seine Hoffnungen schon fast aufgegeben hatte, entwickelten sich die Dinge doch anders: Lühnde behält seine eigene Arztpraxis. Am 1. Oktober beginnt Dr. Sabine Heitmann aus Hannover hier samt vertrautem Personal wieder mit der Sprechstunde.
„Ich bin darüber sehr sehr froh“, gesteht Wittneben, der die Praxis vor 33 Jahren von seinem Vater übernommen hatte, der zuvor auch 31 Jahre in Lühnde praktizierte. Beide Ärzte gehörten noch zu einem Medizinergeschlecht, das offensichtlich immer seltener wird: der Landarzt. Auch wenn in Fernsehserien und Heimatfilmen gerne eine Idylle dieses Berufsstandes poliert wird – der Straßenname „Ummelner Pforte“ der Lühnder Praxis schiene ja geradezu dafür prädestiniert – der Alltag sieht doch oft ganz anders aus. „Das Wichtigste ist das Zuhören“, betont der 67- Jährige immer wieder. Sprechstunde – das möchte er ganz wörtlich verstanden wissen. „Die ersten 30 Sekunden gehören ausschließlich dem Patienten.“ So lautet seine eiserne Regel. Mit Aufmerksamkeit und genauem Hinschauen – da erfahre er weitaus mehr über den Menschen und über seine Krankheit als mit vielen hochspezialisierten, technischen Untersuchungen. Überhaupt ist er all die Jahre auch ein Arzt gewesen, der lediglich mit seiner braunen Ledertasche auf dem Beifahrersitz seines Autos über die umliegenden Dörfer fuhr, um Hausbesuche zu absolvieren. Wenn der silberne Wagen mit dem „DR“ (samt der passenden Telefonnummer: 1851) auf demKennzeichen einrollte, wurde er meist schon ungeduldig erwartet. Rund 700 Patienten im Quartal – das ist schon eine großeAnzahl und auch große Verantwortung. „Mir hat immer die Vielseitigkeit gefallen“, meint Wittneben mit dem ihm eigenen bedächtigen Tonfall. Von Keuchhusten bis Kreuzschmerzen, von Alkoholismus bis Alzheimer, von Hautallergie bis Hepatitis – für jedes Leiden ist er zunächst die erste Anlaufstelle im Dorf gewesen. „Mit der Zeit hatte ich einen guten Kreis von Fachärzten, an die ich meine Patienten guten Gewissens weiter überweisen konnte“, sagt Wittneben, der seine Ausbildung zum Internisten fast absolviert hatte, bevor er sich für die Allgemeinmedizin entschloss. Und das auch nie bereut hat. Selbst mit Hexenschuss oder Krücken saß er in der Praxis auf dem vertrauten Drehstuhl. „Ich brauche in der Behandlung doch hauptsächlich meine Augen und meine Ohren.“ Auch sein Familienleben mit seiner Frau Wendela und seinen beiden inzwischen erwachsenen Töchtern Wiebke und Marieke-Fiona litt darunter, wenn spätabends im Wartezimmer immer noch Patienten auf ihn warteten, oder er zu einem Notfall gerufenwurde und sofort alles stehen und liegen lassen musste. „Das gehört eben dazu“, sagt er und will sich gar nicht als aufopferungsvoll verstanden wissen. Allerdings: Wer wollte sich heute noch mit 14 Tagen Urlaub im Jahr zufrieden geben? Viele seiner Patienten hat er aufwachsen sehen, kennt die Namen und dazu ihre Familien- und Krankengeschichten, hat Geburt und Tod hautnah miterlebt. Landärzte sind näher dran am Patienten. Ob Greis oder Säugling – immer musste er wissen, wie er seinem Patienten begegnet, was sein Gegenüber von ihm möchte. Und ja: Auch was er ihm zumuten darf. Dazu gehört Vertrauen ins eigene Tun. Das hat allerdings in den vergangen Jahren immer mehr Kratzer bekommen. Die steigende Bürokratisierung und vor allem die deckelnde Budgetierung haben ihm das Berufsleben schwerer gemacht. „Da ist so viel wertvolle Zeit draufgegangen“, kritisiert Wittneben. Ein Gesundheitssystem, das so sehr auf Kontrolle setze und so wenig Zeit für den Patienten selbst lasse, sei nicht zum Wohl des Menschen. Und wohl auch nicht des Mediziners: Dennnoch gilt die Regel, dass ein Arzt nur eine bestimmte Anzahl von Patienten behandeln darf. Wer mehr arbeitet, leistet das für geringere Pauschalen – und muss so bei Überziehung von Medikamenten-Verordnungen oft noch Strafen bezahlen. Vorschläge der Politik, den Beruf des Landarztes wieder attraktiver zu machen, das kann Wittneben mit Blick auf seine Nachfolgerin nur unterstreichen. Er lässt seine Praxis bis zum 1. Oktober vorerst ruhen. In guter Erinnerung wird vielen Patienten nicht nur der ruhige und besonnene Arzt bleiben, sondern vor allem auch seine Rezepte und Überweisungen, die er mit schnellem Strich stets noch mit einemBlümchen veredelte. „Wirkt doch gleich viel freundlicher“, sinniert Wittneben über seine Marotte, die ihm über die Dorfgrenzen hinaus den Spitznamen „Blümchen-Doktor“ eingebracht hat. Und das passt zu einem überzeugten Landarzt doch eigentlich ganz gut.