Sein Grünkohl hat sogar in Florida Furore gemacht – doch jetzt ist damit endgültig Schluss
(HAZ/Marita Zimmerhof/10.08.2020) Die Lühnder Kate Lulende gibt nach mehr als 30 Jahren ihren Betrieb auf. Gastwirt Volker Wesemann muss sich von seinen zahllosen Schätzen trennen – und von seinen Stammgästen.
Die Umrisse des Keilerkopfs zeichnen sich auf der Tapete noch immer ab. Der Wildschweinschädel aber hat längst einen Abnehmer gefunden. Auch viele andere Schätze in der „Kate Lulende“ in Lühnde werden bald verschwunden sein: An dem schwarzen Wählscheibentelefon, dass einen Hörer noch an die Strippe legt, hängt bereits ein Zettel mit dem Namen des künftigen Besitzers. Und für das alte Werbeschild von „Hildpils“ hat sich ebenfalls ein Bewerber vormerken lassen. Seit über 30 Jahren ist die Kate Lulende Arbeitsplatz und zweites Wohnzimmer von Gastwirt Volker Wesemann. Doch nun ist Schluss.
Klar, eines Tages hätte sich der 68-Jährige aufs Altenteil zurückziehen müssen. Aber nicht jetzt. Und nicht so. Mit dem Shutdown in der Corona-Pandemie Ende März musste Wesemann von jetzt auf gleich schließen. Sein Lokal hat nur 30 Plätze, da fällt Abstandhalten ohnehin schwer, und es hat keinen zweiten Ausgang. Vier Monate hat Wesemann durchgehalten: Null Einnahmen, aber weiter laufende Kosten. Nun hat er die Notbremse gezogen. „Zum 1. August habe ich das Gewerbe abgemeldet“, sagt er. Doch dass er mit seinen Gästen nicht Abschied feiern, sich nicht von jedem verabschieden konnte, das liegt ihm bis heute schwer auf der Seele. Vor Corona kam der Wirt in manchen Wochen auf 60, 70 oder gar 80 Arbeitsstunden – denn die Kate war auch das zweite Zuhause vieler Stammgäste. Deshalb hielt es der Wirt, wenn es denn sein sollte, hinter seiner Theke aus, selbst wenn davor nur zwei Durstige ein Thema bis ins Detail erörtern wollten. „Das etwas andere Lokal“, lautete der Werbeslogan.
Das Gebäude selbst war ursprünglich das Gesindehaus eines großen bäuerlichen Anwesens. Um 1800 im Fachwerkstil erbaut, bot es sechs kleine Kammern unten, sechs kleine Kammern oben. Bei einer Raumhöhe, die an der niedrigsten Stelle gerade einmal 1,57 Meter maß. Wesemann ist eigentlich gelernter Friseur, was vielleicht seinen imposant gezwirbelten Schnauzer und den langen Kinnbart erklärt. Später wechselte er in die Versicherungsbranche, zog nach Hildesheim und lernte seine Ehefrau Regina kennen, die aus Lühnde stammt. Schnell freundete er sich mit der Nordkreisgemeinde an. Doch irgend etwas fehlte ihm: eine richtig urige Kneipe. 1986 kauft er das Gesindehaus, um genau ein solches Lokal selbst zu eröffnen. Branchenkenntnisse hatte er nicht, aber er sei schon immer ein leidenschaftlicher Hobbykoch gewesen. „Nachdem ich mir an diesem Balken hier dreimal den Kopf gestoßen habe, musste der raus“, sagt der groß gewachsene Mann und deutet auf die freie Stelle, die einst besagter Balken versperrte. Um Platz zu schaffen in der engen Kate, entkernte er das gesamteHaus, nahm Lehmschlag-Gefache heraus, legte Balken frei. Weil einige schon reichlich morsch geworden waren, wurden sie ersetzt mit Balken einer abgerissenen Scheune aus Algermissen. „Die hochwertigen rechteckigen gingen damals für den Bau des Knochenhauer-Amtshauses nach Hildesheim, die billigen mit den abgerundeten Seiten habe ich übernommen. Deshalb sind hier auch Löcher an Stellen, an denen niemals eine Decke eingehängt war.“
Der Name des Lokals leitet sich von der ersten urkundlichen Erwähnung Lühndes ab: 1117 ist von Lulende die Rede. Und natürlich hängt an der Wand die Kopie der Ortschronik, die all dieses belegt. Überhaupt: die Wände! Man weiß kaum, wo man zuerst und zuletzt hingucken soll, so überreich ist jedes Fleckchen mit Kuriositäten dekoriert. Altes bäuerliches Gerät hängt neben einer Oberallgäuer Kuhglocke – „da habe ich 15 Jahre drum gekämpft, dass ich die nach Niedersachsen entführen durfte. “ Zwei ausgestopfte Steinmarder, die nach langen Kneipenjahren ebenso wie die Schleiereule und der Feldhamster einen nikotinbraunen Grundton angenommen haben, flankieren ein Schiffssteuerrad. Die gläsernen Bierkannen hat Wesemann aus dem längst geschlossenen „Schwejk“ in Hildesheim übernommen. „Da haben sich die Leute früher ihr Bier mit nach Hause geholt.“ Ein Wirtshausschild „Zur Linde“ erinnert an das Lühnder Gasthaus von Ernst Selle.
„Das ist irgendwann mal abgebrannt und nie wieder eröffnet worden. Das Schild hat nur überlebt, weil es draußen im Garten hing.“
Es gibt nichts, zu dem der Wirt nicht eine Geschichte erzählen könnte. Und er tut es mit Freude. Die alte Kurbelnähmaschine, Marke Mundlos, stamme aus der DDR, das Harmonium lasse sich nicht mehr bespielen, weil Mäuse den Blasebalg zerbissen hätten, und dieses Teil hier, sagt Wesemann und greift zu einer kleinen Holzapparatur, sei eine Schnupftabakmaschine. Man hält sie wie eine Malerpalette mit dem Daumen unter die Nase über zwei kleine Vertiefungen, in die der Schnupftabak gestreut wird. In einem Spiegelchen kann man die korrekte Position des Riechkolbens überprüfen. Dann drückt man einen hölzernen Spannhebel – und schon schießt der Schnupftabak zielgenau in die Nasenlöcher … Nicht nur Lühnder haben die Kate immer wieder gern angesteuert. Stolz zeigt Wesemann Schreiben von Gästen, die aus dem Harz, aus Hamburg oder Düsseldorf anreisten, nur um seinen Grünkohl zu probieren. Auswanderer nahmen sich einen Vorrat Grünkohl sogar mit nach Key West und schrieben aus Florida, dass das Essen den Transport über den großen Teich gut überstanden habe. Wenn Wesemann vom Auftritt der Lokal-Band Chasing Wheels schwärmt, könnte man meinen, der sei erst gestern gewesen. Als der Bledelner Tontechniker Lars Oppermann 2011 für sein schräges Komödiendrehbuch „Gangster, Geld & Rock ’n’ Roll“ eine Filmkulisse suchte, dreht er – natürlich bei Wesemann. „Ich war sogar als Komparse dabei“, sagt der Wirt.
Eine Gruppe von Kindergarten-Vätern, die sich vor 20 Jahren hier erstmals zum erziehungspädagogischen Meinungsaustausch traf, kommt noch immer – obwohl die Kinder längst aus der Schule sind. Oder genauer gesagt: kamen. Denn mit all dem ist nun Schluss. Wesemann hat das Haus an eine Frau aus Hannover verkauft, die es wieder zum Wohnhaus machen will. „Ich habe immer viel zu viel an andere gedacht statt an mich. Aber ich würde es genau wieder so tun“, sagt der Ex-Wirt. Nach 52 Arbeitsjahren wolle er künftig mehr lesen, Zeit für seine Hunde haben, mit seinem Kymco, einem taiwanesischen Mini-Pick-Up, fahren. „Nur eines mache ich nicht: Frühstücksfernsehen gucken.“